Nebel ueber der Lagune by Lenormand

Nebel ueber der Lagune by Lenormand

Autor:Lenormand
Die sprache: deu
Format: azw3, epub, mobi
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2014-12-15T23:00:00+00:00


XII

Leonora hatte keine Angst. Vor ihr lag ein großer, rechteckiger Gesteinsbrocken, der ihr völlig harmlos vorkam.

»Das ist aber komisch«, ließ sich einer der Bewohner des Viertels vernehmen, der mit den anderen um den Fund herumstand.

Rasch warf Flaminio dell’Oio seinen Umhang auf den Stein. Er verdoppelte den Lohn der Taucher, damit sie sich davonmachten, und heuerte dann andere Kräfte an, die den Brocken zur nächsten Barke schafften, in eine Plane verpackten und festzurrten. Leonora sah zu, ohne etwas zu begreifen. Sie hörte nur, wie man um sie herum flüsterte und auf das große Paket deutete. Erst als sie in der spontan gemieteten Ölbarke saßen, wagte sie ihren Begleiter zu fragen, wieso ein alter Stein eine solchen Aufregung auslösen konnte.

»Genau deshalb, weil es kein alter Stein ist!«, erwiderte Flaminio dell’Oio mit einem Seitenblick auf den rudernden Ölhändler. »Wenn Gott doch nur gewollt hätte, dass es ein alter wäre! Dann hätte sich niemand etwas dabei gedacht, und ich hätte in der kommenden Nacht ruhig geschlafen.«

»Und was stört die Leute von Santo Stefano an diesem Stein?«, wollte Leonora wissen. Ihr Begleiter hob die Augen zum Himmel.

»In Venedig gibt es keine Natursteine. Die Häuser werden aus Backsteinen gebaut. Die großen Natursteine sind nur für Kirchenfassaden oder herrschaftliche Häuser bestimmt. Sie kommen vom Festland. Es kostet ein Vermögen, sie hierherzutransportieren. Deshalb wird jeder Stein aus den Steinbrüchen mit einem Zeichen versehen, dem zu entnehmen ist, wo er herkommt und wozu er bestimmt ist. Das weiß hier jeder! Ihr Herr Vater hat wirklich Pech, dass die Einzige, die ihm helfen will, ein unwissendes Täubchen aus dem Kloster von Vicenza ist!«

Es war das erste Mal, dass Leonora ihn gereizt erlebte. Sie schloss daraus, dass er sich Sorgen machte.

»Also eigentlich eine gute Nachricht«, sagte sie mit wenig überzeugter Stimme. »Wir müssen nur noch in Erfahrung bringen, wo der Stein herkommt und wem er gehört …«

»Aber das wissen wir doch bereits!«, erwiderte dell’Oio lauter, als er wollte. »Es tut mir äußerst leid, aber alle Ihre Zechinen können die Gefahr, in der wir schweben, nicht aufwiegen.«

Mit diesen Worten sprang er bei der ersten sich bietenden Gelegenheit an Land und verschwand in einer der Gassen.

Leonora blieb mutterseelenallein in der fettigen Barke mit dem Ölhändler und dem eingewickelten Steinbrocken zurück. Es war nicht zu fassen! Und obwohl sie noch wie betäubt von der Feigheit des Höflings war, der sie mit dieser unhandlichen Steinlast sitzen ließ, ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie sich so vollständig auf den Flegel Flaminio verlassen hatte!

Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Hier und da leuchteten in den Fenstern, in den kleinen Geschäften und unter den Portalvorbauten die ersten Kerzen auf. Leonora fühlte sich so verlassen wie bei ihrer Ankunft. Nur dass sie an jenem Abend keinen Stein mit sich herumschleppte, dessen Anblick genügte, um die Leute in die Flucht zu jagen. Was sollte sie jetzt tun?

Da ihr nichts Besseres einfiel, wies sie den Ölhändler an, sie zur Ca’ Civran zu rudern. Dort schleppten die Lakaien das schwere Paket in die Eingangshalle. Wie gewöhnlich waren weder ihre Mutter noch ihr Bruder zu Hause.



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